Wie lange kann eine Forderung streitig sein?
BGH-Urteill IX ZR 22922 – Vollstreckung aus einem vorläufig vollstreckbaren Titel – wie lange kann eine Forderung streitig sein?
Einleitung
Die Feststellung des genauen Zeitpunkts des Eintritts der insolvenzrechtlichen Zahlungsunfähigkeit bereitet in der Praxis oft Probleme und ist Gegenstand zahlreicher gerichtlicher Entscheidungen. Auch die Frage, wie das Bestehen eines vorläufig vollstreckbaren Titels bei bestrittenen Forderungen im Rahmen der Beurteilung der Zahlungsunfähigkeit zu werten ist, ist umstritten.
Der Bundesgerichtshof hat hierzu nun in einem aktuellen Urteil klargestellt: Für die Beurteilung der Zahlungsunfähigkeit des Schuldners kommt es auf die objektive Rechtslage an. Dies gilt insbesondere für die Frage, ob Verbindlichkeiten tatsächlich bestehen und fällig sind. Ein vorläufig vollstreckbarer Titel über eine streitige Forderung ist bei der Beurteilung der Zahlungsunfähigkeit durch den Schuldner in Höhe des Nennwerts der titulierten Forderung zu berücksichtigen, wenn die Voraussetzungen für eine Vollstreckung aus dem Titel vorliegen und der Titelgläubiger die Vollstreckung eingeleitet hat.
BGH-Urteil vom 23. Januar 2025, AZ. IX ZR 229/22
Im Streitfall ging es um einige Zahlungen i.H.v. insgesamt ca. EUR 90.000,00 die die Schuldnerin an eine Anwaltskanzlei geleistet hatte.
Vor den Zahlungen hatte sich die Schuldnerin mit einem Schuldbeitritt zur Rückzahlung eines Darlehens zugunsten eines Dritten (der Darlehensgeberin) verpflichtet und war hieraus in Anspruch genommen worden. Die Schuldnerin bestritt die Fälligkeit des Darlehensrückzahlungsanspruchs; dies war jedoch erfolglos – das Landgericht verurteilte die Schuldnerin mit vorläufig vollstreckbarem Urteil zur Rückzahlung des Darlehens. Die Klägerin leitete aus dem Urteil die Zwangsvollstreckung ein. Die Schuldnerin legte gegen das Urteil Berufung ein und beantragte, die Zwangsvollstreckung ohne Sicherheitsleistung einstweilen einzustellen. Das Oberlandesgericht wies den Antrag zurück. Nach Abschluss einer Zahlungsvereinbarung verzichtete die Klägerin auf weitere Durchführung der Vollstreckungsmaßnahmen, ohne diese vollständig einzustellen.
Nachfolgend wurde über das Vermögen der Schuldnerin das Insolvenzverfahren eröffnet und der Kläger zum Insolvenzverwalter bestellt. Der Kläger fordert die Zahlungen im Wege der Anfechtung zurück. Das Landgericht hielt die streitbefangenen Zahlungen für anfechtbar und verurteilte die Beklagte zur Rückzahlung zur Insolvenzmasse. Im darauffolgenden Berufungsverfahren änderte das Berufungsgericht jedoch das erstinstanzliche Urteil und wies die Klage insgesamt ab. Das Berufungsgericht verneinte die Voraussetzungen der Vorsatzanfechtung, da es an einem Gläubigerbenachteiligungsvorsatz der Schuldnerin gefehlt habe. Das Gericht meinte, die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils ändere daran nichts, da die Schuldnerin mit ihrer Berufung – trotz der eingeleiteten Vollstreckungsmaßnahmen – auf eine vollständige Beseitigung des Urteils hingewirkt habe.
Dies wertete der Bundesgerichtshof als rechtsfehlerhaft und hob das klageabweisende Berufungsurteil auf. Der BGH stellt fest, dass die Schuldnerin objektiv zahlungsunfähig gewesen ist, als die Vollstreckungsmaßnahmen eingeleitet wurden. Die Zahlungsunfähigkeit habe die Schuldnerin auch erkannt, als sie von der Einleitung der Vollstreckungsmaßnahmen Kenntnis genommen habe. Dabei befasst sich der BGH mit der Frage, wie ein vorläufig vollstreckbarer Titel aus streitigen Forderungen bei der Beurteilung der Zahlungsunfähigkeit zu berücksichtigen ist. Der BGH führt aus, dass es für die Beurteilung der Zahlungsunfähigkeit des Schuldners auf die objektive Rechtslage (einschließlich des Prozessrechts) ankommt. Dies gilt nach dem BGH insbesondere für die Frage, ob Verbindlichkeiten tatsächlich bestehen und fällig sind. Liegt hinsichtlich der Forderung ein vorläufig vollstreckbarer Titel vor, wirkt sich dies jedoch hinsichtlich der Beweislast für das Bestehen streitiger Forderungen aus. Danach ist eine streitige Forderung, über die ein vorläufig vollstreckbarer Titel vorliegt, in Höhe des Nennwerts der titulierten Forderung zu berücksichtigen, wenn die Voraussetzungen für eine Vollstreckung aus dem Titel vorliegen und der Titelgläubiger die Vollstreckung eingeleitet hat. Die sonst übliche Verteidigung gegen die Zahlungsunfähigkeit mit dem Argument, die Forderung sei streitig gewesen, greift also (spätestens) mit der Einleitung der Zwangsvollstreckung nicht mehr.
Praxishinweis
Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs ist in mehrfacher Hinsicht von praktischen Relevanz:
Zum einen stärkt das Urteil die Handhabe des Insolvenzverwalters bei Anfechtungsprozessen und stellt weitere Beweisanzeichen für das Vorliegen einer Zahlungsunfähigkeit und des Gläubigerbenachteiligungsvorsatzes zur Verfügung.
Das Urteil erweist sich aber auch für Geschäftsführer in Krisensituationen als besonders (haftungs-) relevant: Leitet der Gläubiger die Zwangsvollstreckung ein und gelingt es dem Schuldner nicht, dies durch die Möglichkeit von Anträgen und Rechtsmitteln unterbinden, muss die titulierte Forderung mit ihrem Nennwert, d.h. in voller Höhe, im Rahmen der Liquiditätsplanung berücksichtigt werden. In solchen Fällen ist der Geschäftsführer angehalten, genau zu evaluieren, ob dies nicht zu Zahlungsunfähigkeit führt und ggf. unverzüglich zu handeln.